Fernabsatzrecht: Ist bei zum Verbrauch bestimmten und tatsächlich verbrauchten Waren, z.B auch bei der leitungsgebundenen Lieferung von Strom und Gas, ein Widerrufsrecht bei Fernabsatzverträgen ausgeschlossen?
Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshofs an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zur Auslegung der Richtlinie 97/7/EG (Fernabsatzrichtlinie)
Sachverhalt
Der Kläger unterzeichnete am 20. Januar 2007 einen von der Beklagten, einem Strom- und Gasversorgungsunternehmen, gestellten Formularvertrag „Vertragsvereinbarung KombiSTA Strom & Gas“, nach der die Beklagte den Kläger ab dem 1. März 2007 für die Dauer von mindestens einem Jahr mit Strom und Gas beliefern sollte. Mit Schreiben vom 27. Januar 2007 widerrief der Kläger seine auf Abschluss des Vertrages gerichtete Willenserklärung vom 20. Januar 2007.
Mit der Klage hat der Kläger unter anderem die Feststellung begehrt, dass er seine auf Abschluss der Vertragsvereinbarung KombiSTA Strom & Gas gerichtete Willenserklärung wirksam widerrufen hat. Er macht geltend, dass ihm das für Fernabsatzverträge geltende Widerrufsrecht zustehe.
Die gerichtlichen Entscheidungen
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landgericht hat die Berufung des Klägers mit der Begründung zurückgewiesen, ein Widerrufsrecht sei gemäß § 312d Abs. 4 Nr. 1 BGB ausgeschlossen, weil Strom und Gas zur Rücksendung nicht geeignet seien.
Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat das Revisionsverfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gemäß Art. 234 EG die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob die Bestimmung des Art. 6 Abs. 3 Spiegelstrich 3 Fall 3 der Richtlinie 1997/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz (Fernabsatzrichtlinie) dahin auszulegen ist, dass ein Widerrufsrecht nicht besteht bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz über die leitungsgebundene Lieferung von Strom und Gas.
Bei der Vertragsvereinbarung KombiSTA Strom & Gas handelt es sich um einen Fernabsatzvertrag über Waren. Nach deutschem Recht (§ 312d Abs. 1 Satz 1 BGB) steht dem Kläger folglich ein Widerrufsrecht zu, wenn es nicht durch § 312d Abs. 4 Nr. 1 Fall 3 BGB ausgeschlossen ist. Das ist nach nationalem Recht unklar. Nach Auffassung des Senats spricht zwar der Wortlaut der Vorschrift dafür, dass bei der leitungsgebundenen Lieferung von Strom und Gas, die zum sofortigen Verbrauch durch den Kunden bestimmt sind, ein Widerrufsrecht nicht besteht, weil eine Rücksendung der Ware durch den Verbraucher ausscheidet. Nach der Gesetzesbegründung soll die Bestimmung jedoch weniger den Fall der tatsächlichen Unmöglichkeit der Rücksendung erfassen, als vielmehr Fälle, in denen ein Widerrufsrecht und die Rücksendung der Ware für den Unternehmer – ebenso wie in anderen in § 312d Abs. 4 BGB geregelten Fällen – unzumutbar sind. Unzumutbar ist der Widerruf bei Waren, die wie Strom und Gas zum Verbrauch durch den Kunden bestimmt und im Zeitpunkt der Ausübung des Widerrufs bereits verbraucht sind, für den Unternehmer nicht. Denn an die Stelle der Verpflichtung zur Rückgewähr der Ware tritt in diesen Fällen gemäß § 346 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB eine Wertersatzpflicht des Verbrauchers. Daraus wird im Schrifttum gefolgert, dass der Verbrauch der Ware für das Bestehen und die Ausübung des Widerrufsrechts ohne Bedeutung ist. Danach könnte ein Widerrufsrecht auch bei der leitungsgebundenen Lieferung von Strom und Gas anzunehmen sein.
Da der nationale Gesetzgeber mit § 312d Abs. 4 Nr. 1 Fall 3 BGB bewusst den Ausnahmetatbestand des Art. 6 Abs. 3 Spiegelstrich 3 Fall 3 der Fernabsatzrichtlinie wörtlich übernommen hat, hängt die Auslegung von § 312d Abs. 4 Nr. 1 Fall 3 BGB nach der Ansicht des Senats davon ab, ob Art. 6 Abs. 3 Spiegelstrich 3 Fall 3 der Fernabsatzrichtlinie mit dem Ausschluss des Widerrufsrechts bei Verträgen zur Lieferung von Waren, die aufgrund ihrer Beschaffenheit nicht für eine Rücksendung geeignet sind, auch Strom- und Gaslieferungsverträge erfasst.
Neben dem Wortlaut der Regelung deuten systematische Erwägungen darauf hin, dass dies der Fall ist. Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 der Fernabsatzrichtlinie sind die einzigen Kosten, die dem Verbraucher infolge der Ausübung seines Widerrufsrechts auferlegt werden können, die unmittelbaren Kosten der Rücksendung der Waren. Damit könnte eine Wertersatzpflicht, wie sie nach deutschem Recht im Fall des Verbrauchs der Ware besteht, unvereinbar sein. Da aber ohne eine solche der Widerruf für den Unternehmer unzumutbar wäre, könnte Art. 6 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 der Fernabsatzrichtlinie dafür sprechen, dass bei zum Verbrauch bestimmten und tatsächlich verbrauchten Waren – und damit auch bei der leitungsgebundenen Lieferung von Strom und Gas – das Widerrufsrecht gemäß Art. 6 Abs. 3 Spiegelstrich 3 Fall 3 der Fernabsatzrichtlinie ausgeschlossen ist.
Andererseits besteht der Sinn und Zweck des Widerrufsrechts darin, dem Verbraucher nach der Lieferung der Ware ein Recht zur Lösung vom Vertrag zu geben, weil er vorher keine Möglichkeit hat, das Erzeugnis zu sehen. Das gilt auch bei Waren, die zum Verbrauch bestimmt sind. Im Hinblick darauf könnte Art. 6 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 der Fernabsatzrichtlinie möglicherweise auch dahin auszulegen sein, dass die Regelung nur Kosten im Zusammenhang mit der tatsächlichen Rücksendung der Ware betrifft, aber einem Wertersatzanspruch – und deshalb auch einem Widerrufsrecht – bei verbrauchten Waren nicht entgegensteht. Damit würde der Sinn und Zweck des Widerrufsrechts optimal verwirklicht, insbesondere wenn der Vertrag – wie in dem zu entscheidenden Fall – auf die wiederkehrende Lieferung gleichartiger Waren gerichtet ist und die Wertersatzpflicht nur für eine Teillieferung eingreift.
Da sich nach alledem nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen lässt, wie Art. 6 Abs. 3 Spiegelstrich 3 Fall 3 der Fernabsatzrichtlinie im Hinblick auf Strom- und Gaslieferungsverträge auszulegen ist, ist die Antwort auf die Vorlagefrage der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vorbehalten.
§ 312d Abs. 4 BGB lautet auszugsweise:
„Das Widerrufsrecht besteht, soweit nicht ein anderes bestimmt ist, nicht bei Fernabsatzverträgen
1. zur Lieferung von Waren, die nach Kundenspezifikation angefertigt werden oder eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten sind oder die auf Grund ihrer Beschaffenheit nicht für eine Rücksendung geeignet sind oder schnell verderben können oder deren Verfalldatum überschritten würde,
2. zur Lieferung von Audio- oder Videoaufzeichnungen oder von Software, sofern die gelieferten Datenträger vom Verbraucher entsiegelt worden sind,
3. zur Lieferung von Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten, …“
Artikel 6 der Fernabsatzrichtlinie lautet auszugsweise:
„Widerrufsrecht
(1) Der Verbraucher kann jeden Vertragsabschluß im Fernabsatz innerhalb einer Frist von mindestens sieben Werktagen ohne Angabe von Gründen und ohne Strafzahlung widerrufen. Die einzigen Kosten, die dem Verbraucher infolge der Ausübung seines Widerrufsrechts auferlegt werden können, sind die unmittelbaren Kosten der Rücksendung der Waren. …
(2) Übt der Verbraucher das Recht auf Widerruf gemäß diesem Artikel aus, so hat der Lieferer die vom Verbraucher geleisteten Zahlungen kostenlos zu erstatten. Die einzigen Kosten, die dem Verbraucher infolge der Ausübung seines Widerrufsrechts auferlegt werden können, sind die unmittelbaren Kosten der Rücksendung der Waren. Die Erstattung hat so bald wie möglich in jedem Fall jedoch binnen 30 Tagen zu erfolgen.
(3) Sofern die Parteien nichts anderes vereinbart haben, kann der Verbraucher das in Absatz 1 vorgesehene Widerrufsrecht nicht ausüben bei
– Verträgen zur Erbringung von Dienstleistungen, deren Ausführung mit Zustimmung des Verbrauchers vor Ende der Frist von sieben Werktagen gemäß Absatz 1 begonnen hat;
– Verträgen zur Lieferung von Waren oder Erbringung von Dienstleistungen, deren Preis von der Entwicklung der Sätze auf den Finanzmärkten, auf die der Lieferer keinen Einfluß hat, abhängt;
– Verträgen zur Lieferung von Waren, die nach Kundenspezifikation angefertigt werden oder eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten sind oder die aufgrund ihrer Beschaffenheit nicht für eine Rücksendung geeignet sind oder schnell verderben können oder deren Verfallsdatum überschritten würde;
– Verträgen zur Lieferung von Audio- oder Videoaufzeichnungen oder Software, die vom Verbraucher entsiegelt worden sind;
– Verträgen zur Lieferung von Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten;
– Verträgen zur Erbringung von Wett- und Lotterie-Dienstleistungen. …“
Beschluss vom 18. März 2009 – VIII ZR 149/08
AG Aachen – Urteil vom 22. November 2007 – 80 C 124/07
LG Aachen – Urteil vom 16. Mai 2008 – 5 S 233/07
Anmerkung: Wichtig für den Unternehmer ist, dass er auf den Widerrufsausschluss in den Fällen des § 312d Abs. 4 BGB hinweisen muss, sofern er sich nach Abschluss des Fernabsatzvertrages auf einen solchen berufen möchte.
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